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Antisemitismus-Studie

Boris Kálnoky • 17. Mai 2019

Interview mit Rabbi Slomo Köves

„Rechter Antisemitismus ist nicht mehr die größte Gefahr für Juden“. Rabbi Slomo Köves führt Ungarns orthodox-jüdische Gemeinde EMIH. Er sieht eine Umkehrung des Antisemitismus in Europa: Von Rechts nach Links. Die größte Gefahr sei Migration.

Herr Köves, einer Studie der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) zufolge wächst die Sorge der Juden in Europa vor antisemitischen Tendenzen – nur in Ungarn nimmt sie ab. Was ist da los?

Es wurde nicht Antisemitismus gemessen – der hat auch nicht abgenommen - sondern dessen Wahrnehmung. Gefühlt ist der Antisemitismus übrigens immer schlimmer als die Realität. Wenn wir die Perzeption messen, kommen immer sehr viel negativere Daten heraus als wenn wir tatsächliche antisemitische Attitüden oder Zwischenfälle messen. Diese übertrieben negative Wahrnehmung hat sich verbessert.

Wie ist so etwas messbar?

Wenn wir fragen, wie schlimm der Antisemitismus im Land ist, kommen immer unglaublich negative Werte heraus, aber wenn wir fragen ob jemand Antisemitismus selbst erlebt hat, oder jemanden kennt dem so etwas widerfahren ist, dann sind die Werte sehr gering. Da ist eine Diskrepanz, die noch größer wird wenn wir sie mit den Ergebnissen des Monitoring vergleichen, also dokumentierten antisemitischen Vorkommnissen.

Und wieso hat sich die Wahrnehmung verbessert?

Die Zahl der antisemitischen Vorfälle ist 2017 zurückgegangen. Es gab 37 belegte verbale oder physische Zwischenfälle, 2016 waren es 48, und 2015 gar 52. Auffallend ist das die verbalen Zwischenfälle – also wenn jemand etwas antisemitisches sagt – auf den niedrigsten Stand gesunken sind seit wir diese Phänomene messen, also seit 2014. Es gab 24 solche Vorkommnisse, verglichen mit 43 im Jahr 2015 und 37 im Jahr 2016.

Dafür gab es mehr physische Zwischenfälle als je zuvor – 13, verglichen mit nur zwei im Jahr 2014. Wiegt das nicht schwerer?

Meistens geht es da um Schmierereien an Hauswänden, von denen man in den Medien nicht hört. Aber wenn jemand öffentlich etwas Antisemitisches sagt, dann wird das über die Medien verstärkt. Insofern ist der Rückgang des verbalen Antisemitismus um gut 30 Prozent vermutlich ein Grund für die gesunkenen Sorgen darüber.

Insgesamt weniger Vorfälle – dann hat der Antisemitismus doch abgenommen?

Nein. Unsere Erhebungen zeigen, dass nach wie vor der Anteil von Menschen mit antisemitischen Attitüden bei rund 35-40 Prozent liegt. Das ist ein für Europa typischer Wert. In den USA sind es weniger, in muslimischen Ländern hingegen 70, 80, 90 Prozent. Dieser Wert von 40 Prozent in Ungarn hat sich kaum verändert, aber dessen innere Struktur sehr wohl: Der Anteil radikaler Ansichten ist im Vergleich zu moderat antisemitischen Attitüden deutlich gewachsen.

Erschreckend. Warum?

Die früher radikal rechte Jobbik-Partei hat jahrelang durch ihren antisemitischen Diskurs solche Meinungen legitimiert und den bis dahin vorwiegend moderaten ungarischen Antisemitismus radikalisiert.

Heute gibt sich die Partei aber gemäßigt...

Soziale Prozesse in größeren Maßstäben finden nicht in Wochen statt, sondern in Jahrzehnten.

Bei der Wählerbasis, und - vielleicht wichtiger – Jobbiks Parlamentsabgeordneten hat sich nicht viel geändert, vor allem aber wirken die gut zehn Jahre, in denen Jobbik diesen Diskurs gepflegt hat, nachhaltig fort. Es gibt also diese Verschiebung zu radikaleren Ansichten - aber insgesamt ist der Anteil von Menschen mit antisemitischen Attitüden weder gewachsen noch gesunken.

Jobbik ist klar die antisemitischste Partei, aber wer kommt danach?

Auch da gibt es eine interessante Entwicklung. Bisher lagen die Wähler der Regierungspartei Fidesz an zweiter Stelle, mit 40 bis 42 Prozent antisemitisch eingestellter Anhänger. Danach kam die Sozialistische Partei (MSZP) mit rund 35%. Aber letztes Jahr wurde Fidesz erstmals von den Sozialisten überholt, mit 43 Prozent - bei Fidesz 37 Prozent.

Wieso?

Die Wählerschaft der MSZP bestand immer aus Menschen der Arbeiterklasse, besonders auf dem Land, und einer linksliberalen intellektuellen Elite, zu der auch viele Juden gehörten. Diese Linksliberalen sind in den letzten Jahren zu anderen Parteien abgewandert. Die verbleibende Wählerschicht ist deutlich antisemitischer eingestellt als die urbanen Linksliberalen.

Das erklärt noch nicht, warum Fidesz-Wähler weniger antisemitisch geworden sind.

Ich hatte das Privileg, an vielen persönlichen Diskussionen teilnehmen zu können, in denen klar wurde, dass Ministerpräsident Orbán schon vor einigen Jahren beschlossen, sein Lager von antisemitischen Ansichten zu befreien. Ein Mittel dazu sind die ausgezeichneten Beziehungen zu Israel.

Wie das?

Eine politische Identität zu ändern, das geht nur allmählich, und am besten über ein neues Thema. Die Regierung hat einen neuen konservativen Diskurs aufgebaut, gestützt auf die Ablehnung von Migration und die Stärkung des Nationalstaates gegenüber einem EU-Föderalismus. Dabei ist Israel ein ausgezeichneter Partner. Israel versteht sich, wie Ungarn, als Nationalstaat, kämpft gegen islamischen Terrorismus, und sieht sich wie Orbán mit einer universalistischen, föderalistischen Weltsicht in Brüssel konfrontiert. Orbán selbst sagt seinen Wählern, Israel sei ein Vorbild für Ungarn im Kampf um die nationale Souveränität und die muslimische Erwanderung. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Fidesz-Anhänger beginnen Juden als Verbündete zu sehen, und umgekehrt sehen heute viele Juden rechtskonservative Parteien in Europa als Verbündete. Es gibt eine jüdische Abteilung in der AfD. Im Grunde gibt es eine Umkehrung der antisemitischen Tendenzen in ganz Europa: Eine Annäherung zwischen Konservativen, Rechten und Juden, und ein wachsender linker Antisemitismus, wo man Juden – beziehungsweise Israel – nicht mehr als Opfer sieht sondern als Täter und Unterdrücker der Palästinenser.

Welcher Antisemitismus ist denn tatsächlich gefährlich?

Antisemitismus von rechts bedeutet keine physische Gefahr mehr für Juden. Die wirkliche Gefahr ist heute der Antisemitismus der fundamentalistischen Muslime, der auch in West-Europa durch die massive Migration wächst. Antisemitismus in Ungarn ist vor allem verbal, aber der neue muslimische Antisemitismus in Westeuropa ist physisch – es gibt immer mehr tätliche Übergriffe gegen Juden auf offener Straße. Gefährlich ist auch der neue Antisemitismus der Linken, der sich gegen Israel wendet. Dieser neue, linke Antisemitismus ist in Ungarn zum Glück bislang kaum in Erscheinung getreten. Und muslimischer Antisemitismus auch nicht, dank der restriktiven Migrationspolitik.

Wie ist es mit Orbáns Soros-Kampagne – ist das antisemitisch?

Wir haben das in einer Umfrage gemessen. Wir fragten: „Was kommt Ihnen beim Namen „George Soros“ in den Sinn?“ Da gab es mehrere Optionen, darunter „Jude“. Wir fragten auch: „Was kommt Ihnen beim Wort „Juden“ in den Sinn?“ Da gab es unter zehn Optionen auch „Soros“. Nur zwei Prozent brachten Soros und Judentum in Verbindung, es wurde also nicht als antisemitisch wahrgenommen.

Die FRA-Studie zeigt, dass Juden in Westeuropa – anders als in Ungarn - immer mehr Angst vor Antisemitismus haben. Hängt das mit der Migration zusammen?

Eindeutig. Es gibt immer mehr antisemitische Zwischenfälle, immer öfter von Muslimen. Die Migranten sind vor allem in den Städten, dort leben auch die meisten Juden. Unsere Stiftung „Tett és Védelem“ – (Tat und Schutz) wird deswegen ab sofort auch europaweit regelmäßig antisemitische Vorkommnisse messen.

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